ambulo ergo sum (2010)
* es ist grün im wald. nein es ist nicht grün, es sind viele farben. die allermeisten nennt man grün, aber das ist viel zu wenig gesagt. jetzt im mai sind die grünfarben noch sehr unterschiedlich, später im sommer werden die bäume sich in ihren farben ähnlicher, dunkler, doch unterschiedlich bleiben und unter eiche und unter linde ist auch dann das licht unterschiedlich.
* eine kleine mulde, binsen, beiderseits ein bachgerinsel, licht reflekfiert auf die strombewegungen. stetig im fluß. rundrum sträucher, junge bäume. nachwuchs kommt immer, wenn ein großer baum weg ist und licht freigibt. ein kleiner raum unter überhängenden zweigen. ein platz zum bleiben, sich aufhalten. es hängt sich in meine erinnerung. geräusch im undurchsichtigen gebüsch. vielleicht eine wildsau. es ist wieder still. nichts besonderes um darüber zu berichten?
* ich spreche für publikum über erfahrung in der natur, über primäre wirklichkeit. dann sage ich "in die stille" und da klingelt ganz präzise ein handy, das war deutlich. alle lachen. ich auch.
* ich laufe den forstweg (ich bin immer im wald). ich bin da. wenn ich träume, bin ich nie im wald. dann bin ich nicht da. ich laufe und höre wind in den bäumen. hunderttausend bäume, alle im wind. ich laufe und höre. vögel. es ist mai. im sommer höre stille. ich stehe still. zeit gibt es nicht. ich bin da in der stille. ich atme das ein.
* in palaeochora wartete ich viele tage auf das schiffchen nach gavdhos. tag für tag. zuviel wind über dem offenen meer. tag für tag lief ich in den bergen hinter dem ort. pisten. alte pfade. ein mann dem ich begegnete hielt mich an. er sagte, ich solle den pfad nach rechts gehen, da gäbe es eine quelle mit sehr gutem wasser, ich solle es trinken. an einem anderen tag fragte meine zimmervermieterin, ob ich wieder ins koos ging. ich fragte, wo ist das koos, rund ums dorf? nein, weiter, vorbei an den feldern. sie meinte wohl in den bergen, im gebüsch, da wo der mensch keinen einfluß hat. in der natur.
* ich laufe einen forstweg. (ich laufe immer im wald). das dauert nicht lange. da ist ein pfad, eine spur, ein holzweg. ich bin immer eingeladen und folge dem pfad. es gibt so vieles zu sehen. es ist nicht zu beschreiben. für soviele blätter gibt es keine wörter. ich bräuchte ein wort für jedes blatt. diese wörter gibt es nicht. die armut der sprache. also habe ich nicht viel zu sagen. da gibt es stille und höre und sehe. gerüche, da gibt es kein wort, nur "es riecht wie ..." etc. ich habe nichts zu sagen und sage es und das ist poesie [1. John Cage] und wenn ich rede, wie kann ich dich hören? [2. robert lax].
* ich laufe und weiche vom pfad. ich laufe kreuz und quer. die sonne ist nicht da und ich kann mich im gebüsch nicht mehr orientieren. ich laufe weiter und weiter zwischen all dem das da ist. und ich bin da und gehe weiter oder bleibe stehen, wegen dies und wegen das. und laufe - und irgendwann stosse ich auf einen weg. was ich unterwegs sehe ist da. ich sehe also bin ich. vielleicht ist was da ist anders als ich es sehe, aber was ich sehe ist da. ist dies. und all dies ist da, sonst würde ich's nicht sehen, sonst würde ich nicht da sein. hier und da. in all dies hier.
* ich laufe im wald und höre. also bin ich. und dann die gerüche. im wald riecht alles - und meine nase riecht immer mehr. junges blatt totes blatt vermodertes blatt. schlamm. ein fuchs war hier - oder ein dachs? gerade roch ich etwas und dann war's wieder etwas anderes. wo war es, was war es. schon weg. ein blatt, ein einzelnes blatt bewegt sich.
* immer im wald kann ich nicht sein. ich finde kaum zu essen und ein supermarkt ist nicht da (das wildschwein findet immer zu essen, es wird fett). im winter fällt die zentralheizung aus. jetzt wird's beschwerlich.
* "im wald ist nichts los, es gibt nichts zu sehen. alles ist grün" [3. autor nenne ich mal nicht]
* ich laufe überall wo ich laufen kann solange ich laufen kann. ich laufe in frankfurt, obwohl selten, oft bevorzuge ich ein taxi. ich laufe in stuttgart auch nicht viel. ich laufe in paris und anderswo. am liebsten laufe ich im wald. im wald ist alles neu, jeden tag jeden moment neu, da fühle ich den boden unter meinen füssen. ich ziehe mein hemd aus. jetzt fühle ich einen leisen wind. also bin ich weil ich fühle. in paris und athen fühle ich auch. im wald fühle ich mehr. im wald bin ich. im wald bin ich wald. in paris bin ich ein anderer. bin dort kleiner. jedenfalls fühle ich weniger - also bin ich weniger. es gibt menschen die fühlen sich in london. sie sind dann london. ich bin wald.
* chaos versus ordnung - der gegensatz ist unwirklich.
* eine kleine insel wo ich vor langer zeit war. sie bleibt bei mir. es wohnen dort nur noch wenige. kein hotel. eine kleine mole, kein weg nur pfade. kein bäcker. ich treffe artemis er sagt seine frau backt morgen brot sie kann eins für mich mitbacken. ich laufe lange und hole das brot. wind in der stille. ein rothaariges mädchen mit schafen - scheu. vögel überfliegen. ein kleiner pfad, nahe dem meer das ich höre. ein zusammengefallenes haus. ein kleiner vergessener acker. eine kleine quelle aus der felsenwand, von woher kommen hier die wasserpflanzen im quellbecken. da bin ich gelaufen, kein weg, kein auto, alles zu fuß. einige pfade. eine höhle, im schatten ein paar kleine farne. steine mit großen flechten. orange flechten. sie wachsen sehr langsam. bin da. pfad ist bei mir. wäre fast heimat geworden.
* wie soll ich es sagen. soll ich es überhaupt sagen. kann ich es überhaupt sagen. muss es unbedingt gesagt werden. wenn ich es nicht sage bleibt es ungesagt, bleibt es wie es ist. ohne wörter ist es ungeteilt. ungeyeilt ist es ganz. jetzt habe ich doch etwas gesagt, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre es nicht zu sagen. ein dilemma. eigentlich wollte ich doch etwas sagen, weil ich doch etwas sagen kann, soll ich es dann nicht sagen? wenn es ganz ist, ist dann das gesagte nicht teil? fragen. fragen kann ich. soll ich fragen. hat es sinn zu fragen. wenn es keine antwort gibt, was soll ich dann noch fragen? warum fragen wenn es ist? wenn ich frage was ist und eine antwort da ist. ist es dann aus ist genommen und nicht mehr ganz? wörter. denken. glauben. vermuten.
* ich sehe dies so, du siehst dasselbe, aber nicht so wie ich es sehe. alle augen sehen. zusammen sehen sie das ganze.
* fast täglich laufe ich umher und sehe und höre und rieche und fühle was rundrum ist, also bin ich. was ich so erfahre ist dasselbe, es ist dies. dasselbe ist auch anders, gestern ist vorbei, heute ist es nicht wie gestern. was morgen kommt ist vorher zu sehen, nicht vorher zu sagen, sogar vermuten ist vermessen. trotzdem ist es dasselbe immer immer anders. das continuum das continuierlich continuiert dasselbe und anders, anders und dasselbe. nichts bleibt gleich und ist immer noch da. ich laufe umher und sehe und bin immer im continuum.
* auf dem bauch liege ich im grass und schaue darunter am boden. keimpflänzchen, ein gelbes blatt zwischen den grassstengeln, ende, ameise läuft. ich schaue zv. jetzt bin ich da.
* die vögel rundrum singen, pfeifen, zwitschern, kwettern, dann läten die kirchenglocken. wie überflüssig. sie gehen zur kirche, in einen geschlossenen raum. und aussen in der offenen welt singen die vögel, pfeifen und kwettern. ich verlasse das haus und laufe im wald. ich sage nichts. doch, ein kleiner schwarzroter käfer! es hätte auch ein blauglänzendes käferchen sein können, aber ich sehe jetzt ein schwarzrotes käferchen. warum sage ich das? nur so. so. ich sehe also bin ich.
* lasse ich es dabei. ich sorge mich vielleicht schon zu viel gesagt zu haben. jetzt überlasse ich diesen raum der stille. die freiheit zu sein was es ist.
source: published in herman de vries. ambulo ergo sum. series: mimas atlas # 10 (Hybriden-Verlag Hartmut Andryczuk : Berlin 2010). Edition: 50, numbered and signed.