fragmente an meine russischen freunde (1989)
wie sie auf mich wirkten, diese großen alten namen wie chlebnikov, kamenskij, malevich, insbesondere iwan puni mit seinem bild von ca. l915 'tisch mit teller', das eine große historische bedeutung hat: eine früe verbindung zwischen geist und wirklichkeit; ein denkmal bewusstwerdungsgeschichte. oft gehe ich, wenn ich in stuttgart bin, zur staatsgalerie, wo dieses bild sich jetzt befindet, um es wieder und wieder zu sehen: wirklichkeit als bewusstseinsverwirklichung, die vereinigung von kunst und wirklichkeit. das führt mich auch zu der vorstellung, daß kunst mit bewusstsein oder mit bewusstwerden zu tun hat, was auch von großer sozialer bedeutung ist: kunst ist auch und am unmittelbarsten in dem, was wir in unserem leben zu unserer wirklichkeit machen. da kann jeder mensch beteiligt sein, da hat kunst auch unterdrückungswert in einer totalitär oder autotitär regierten gesellschaft. die beteiligung der alten russischen avantgarde an der großen revolutionären umwälzung einer verkrusteten gesellschaft war ein geistiges abenteuer ersten ranges - ihr ende durch die damaligen staatsorgane vorhersehbar.
l961 schrieb ich in meiner zeitschrift revue nul = 0: "ZERO; alles ist einheit, alles geschieht stillstehend. es gibt keine gegensätze." in meiner damaligen arbeit, den leeren weißen bildern und der jetzigen mit der wirklichkeit, heben sich diese gegensätze auf! "ZERO ist kein ausgangspunkt, sondern ein existenzniveau."
jetzt verfolge ich weiter die entwicklung von meinem selbstverständnis, welches sich zwischen nicht-bilden ('ZERO') und bilden im grenzbereich bewegt. in diesem grenzbereich lagen meine zufallsuntersuchungen ('random objectivations'), darin liegt das 'natural relations' projekt.
"wirklichkeit als selbständiges dokument" fällt mehr dem nicht-bilden zu, meine erdausreibungen ('from earth') kommen dem bilden etwas näher, der grenzbereich, in dem sich meine arbeit (und ich selbst damit) in den letzten 30 jahren bewegt, ist auch ein sozialer bereich. kunst als soziales bewusstsein, das vereinigen von kunst und nicht-kunst. das aufheben der gegensätze. die befreiung des zuschauers von der bedeutung. das akzeptieren und weiterreichen vom gegebenen inhalt der wirklichkeit. die erneuerung der erfahrung - erfahrung der einheit. liebe. die wirklichkeit als bewusstseinsprägung. der baum, die pflanze, der körper;, das essen, der tisch, der teller. es gibt nichts, was nicht ausdruck dieses bewusstseins ist. dieses bewusstsein ist immer neu - innerhalb dieses feldes der möglichkeiten drückt es sich immer anders aus. es gibt keine wiederholung. jeder mensch, baum, blatt ist ein einmaliger ausdruck. svaha.
es gibt nichts, was ohne zusammenhang zum ganzen steht. wenn das ganze einen sinn hat, dann ist jeder aspekt davon voller inhalt und repräsentiert alles. wenn etwas ohne sinn ist, ist auch das ganze ohne sinn. entdeckungen in diesem labyrinth - vorbei an dem zwiespalt der sprache - sind abenteuer - und auch der holzweg führt irgendwo hin.
die unsicherheit ist eine eröffnung zum wunder.
nicht glauben, erfahrung ist was einsicht erbringt. für erfahrungen benötigen wir freiheit, Aber wir können nicht gleichzeitig verlangen: freiheit und sicherheit. freiheit ist eine übergabe an das unbekannte.
das schweigen, das die gegensäze aufhebt.
die umarmung, die die gegensätze vereinigt.
eschenau, 9.-11. April 1989
source: herman de vries, 'fragmente an meine russischen freunde', in exhibition catalogue Sammlung Lenz-Schönberg. Eine europäische Bewegung in der bildenden Kunst von 1958 bis heute = Sobranie Lenca Schönberg. Evropejskoe dvizenie v izobrazitel'nom iskusstve s 1958 goda po nastojascee vremja / hrsg. von Hannah Weitemeier (Cantz : Stuttgart 1989) 24. Reprinted in to be : texte - textarbeiten - textbilder (Stuttgart 1995) 153-155 and in and in exhibition catalogue herman de vries. texte und tatsachen (Museum für Konkrete Kunst : Ingolstadt 2001) 22-23.