the wittgenstein-papers (1980/1995)
einer phase, in der sein interesse an der benutzung der sprache als einem künstlerischen medium zunahm, entdeckte herman de vries 1965 die schriften ludwig wittgensteins. die beührung mit dem werk dieses philosophen - besonders seinem tractatus logico philosophicus - zog sich seither, bis ungefähr 1974/75, durchgängig wie ein roter faden durch sein künstlerisches werk.
de vries' erster visueller text hat einen direkten bezug zu einem satz aus wittgensteins traktat. die satzelemente sind nach dem zufallsprinzip verteilt und zum bildtext geordnet:
die welt ist alles, was der fall ist. (tractatus I)
in der periode von 1968 bis 75 begegnen uns ferner eine anzahl bildtexte, für die der tractarus von wittgenstein die grundlage bildet. beispielsweise:
alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. (tractatus 5.634)
er begnügt sich nicht mit dem tractatus als inhaltlichem vorbild für seine durch den zufall objektivierten textbilder. seine arbeit mit der philosophie wittgensteins geht tiefer und ist sicherlich von bleibendem einfluß auf das ganze gebiet seiner kreativität. in einer ersten phase sehen wir die bearbeitung ausgewählter textfragmente wittgensteins zu textbildern. parallel dazu entstehen auch direkte umserzungen wittgensteinscher, philosophischer aussagen in die bildsprache der nach dem zufallsprinzip gezeichneten bilder (1972).
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der raumpunkt ist eine argumentstelle. (tractatus 2.0131)
in der weiteren entwicklung seines werkes beginnt sich immer deutlicher eine tendenz abzuzeichnen, die in eine art leidenschaftliche liebe zur weisheit mündet. wir sehen hier eine form von philosophie gestalt annehmen, die sein streben als künstler immer deutlicher erkennen läßt: einen schrankenlosen einsatz für die alles umfassende, absolute freiheit, in der alle gegensätze aufgehoben sind und die auf die vollständige verschmelzung von kunst und leben abzielt. dieses streben ist nicht neu. den ersten ansatz dazu finden wir bereits in seiner vorliebe für die farbe weiß in seinen frühesten arbeiten und manifesten.
durch die auseinandersetzung mit der philosophie wittgensteins erreicht das werk herman de vries nun auch in konzeptioneller hinsicht eine vertiefung, die sich später vor allem unter dem einfluß seiner ausgedehnten reisen und dem direkten kontakt mit der asiatischen kultur entscheidend verbreiterte und die auch heute noch nicht abgeschlossen ist.
wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. (tractatus 7)
diesen satz wittgensteins benutzt herman de vries in seiner veröffentlichung 'asiatische und eschenauer texte' (1975). er schreibt den satz mit bleistift auf ein weißes blatt papier und
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interpretiert seine bedeutung auf seine besondere art: er macht den text mit radiergummi größtenteils unleserlich und relativiert ihn dadurch. auch dieses vorgehen zeugt wieder von einer direkten affinität zu seinem ursprünglich malerisch-philosophischen konzept: weiß als symbol absoluter offenheit, symbol für den ort ohne gegensätze, symbol für freiheit, beschaulichkeit, stille.
mit seinem werk 'the wittgenstein papers I und II' (1974 vollendet) faßt er in sehr konzentrierter form seine langjährige auseinandersetzung mit der philosophie wittgensteins zusammen. der erste teil besteht aus den folgenden fünf fragen:
- zerfallt die welt in tatsachen?
- ist die form die möglichkeit der struktur?
- ist die welt des glücklichen eine andere als die des unglücklichen?
- ist denn alles so-sein zufällig?
- was ist der fall?
er gibt folgende erklärung dazu:
... alle sätze in teil I sind sätze aus wittgensteins tractatus, die für mich über lange zeit von großer bedeutung waren. ich habe diese sätze auf die einfachste art wiederum als fragen formuliert. damit habe ich wieder einen neuen nullpunkt erreicht (bezogen auf die künstlerische situation um 1960). dazu kommen noch etliche andere aspekte, unter anderem der wert der loslösung: die tatsache, daß sprache nur denken vermittelt, aber keine erfah-
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rung, daß jede bedeutung, um erfahrbar zu werden, immer aufs neue in frage gestellt werden muß ...
teil II der 'wittgenstein papers' besteht, als konsequenz seines weiß-konzeptes aus 16 leeren, weißen seiten. damit ist auch in diesem teil - wie in teil I der 'wittgenstein papers' auf dem gebiet des bildnerischen konzeptes - ein neuer nullpunkt erreicht.
source: Urs and Rös Graf, '"the wittgenstein-papers" von herman de vries', in to be (stuttgart 1995) 92-95. Translated from 'The Wittgenstein Papers van Herman de Vries', in Museumjournaal. Tweemaandelijkse publikatie voor moderne kunst van 30 Nederlandse musea en kulturele centra 25, Nr. 6 (1980) 238-240 (ill.).