... diese Sätze überwinden (1989)
Eine Idee, erklärt John Dewey, ist "eine über die bestehenden Dinge aufgestellte Skizze und eine Absicht, so zu handeln, daß sie in bestimmter Weise arrangiert werden. Woraus sich ergibt, daß eine Idee dann wahr ist, wenn die Skizze honoriert wird, wenn die auf die Handlungen folgenden Realitäten sich in der von der Idee beabsichtigten Weise neu arrangieren oder neu ordnen" [John Dewey, Essays in Experimental Logic (Chicago 1910) 310, 317].
Dieser Kernsatz der pragmatischen Philosophie beschreibt die erkenntnistheoretische Grundlage der exakten Wissenschaften und ist zugleich ihr wichtigstes Instrument. Ihm zufolge läßt sich die Natur in 'Realitäten' zerlegen und seien diese identisch mit dem Phänomen' die sie darstellen, wenn sie Experimenten unterworfen werden. Natur, das gibt dieser Satz zu verstehen, ist nichts, wenn sie nicht in einer 'Idee' gefaßt und zu einem Experiment dienen kann. Natur als Natur, Natur als sprachlose, nicht hinterfragbare Bedingung unserer Existenz, wir selbst als Natur, haben in diesem Denken nicht nur keinen Platz; vielmehr kann die pragmatische Philosophie und, als ihr Kind, die instrumentelle Vernunft Natur ihrem Wesen nach überhaupt nicht fassen, sondern allenfalls als seine Randbedingung wahrnehmen.
Die Maximen der instrumentellen Vernunft gelten allerdings nicht nur für die exakten (Natur)Wissenschaften, sondern auch für weite Bereiche künstlerischen Handelns. Denn in dem Maße wie die bildenden Künste ihre mimetische Funktion an die technischen Bildherstellungsverfahren verloren, begannen die Künstler - bis auf wenige, die sich mit der Reflexion der möglichen Rolle der Kunst beschäftigten - ihrerseits pragmatisch im Sinne von Dewey zu verfahren, indem sie sich um die Konstituierung von 'Weltbildern' bemühten, seien diese nun 'Skizzen', Stile oder Konzeptionen genannt.
Für die exakten Wissenschaften wie die Künste ergab sich damit ein fundamentaler Wirklichkeitsverlust; denn der Maßstab für das pragmatische Handeln ist nicht der Natur abgewonnen, sondern ein gesellschaftlicher: Im Sinne der instrumentellen Vernunft erfolgreiches Handeln kann die natürlichen Bedingungen nur ausnützen und demonstriert, nolens volens, Beherrschbarkeit als ihr intrinsisches Ziel.
Vor dem Hintergrund dieser Problematik ist herman de vries' Tätigkeit als Künstler zu sehen. Sein Ziel ist es, den circulus viciosus zu durchbrechen, dessen Ausdruck das pragmatische Denken ist; de vries will mit seiner Kunst die wirklichkeit (wieder) unmittelbar zugänglich und erlebbar machen. 1961 schrieb er in seiner Zeitschrift revue nul = 0:""zero; alles ist einheit, alles geschieht stillstehend. es gibt keine gegensätze." und weiter: "zero ist kein ausgangspunkt, sondern ein existenz niveau."
Mit diesen Sätzen befreite sich de vries davon, in herkömmlicher Weise als Künstler zu arbeiten: bestimmte, bedeutungsvolle Werke herstellen zu müssen, und unterwarf sich - ähnlich wie John Cage mit 'Silence' - einer fundamentalen Alternative. Für de vries ging es fortan nicht mehr um die Frage, ob dieser oder jener Stil, diese oder jene Methode anderen gegenüber Vorteile bote. Vielmehr war für de vries nunmehr vor allem zu untersuchen, zu entscheiden und zu thematisieren, ob zu "bilden" sei oder "nicht-bilden (zero)" angemessener sein könne.
herman de vries hat also - anders als viele seiner Künstler-Kollegen - 'zero' nicht als eine lediglich formal interessante Errungenschaft verstanden (und wieder aufgegeben), sondern als erkenntnistheoretische Position ernstgenommen und zur Grundlage gemacht für einen abenteuerlich anmutenden, doch sehr überlegten Sprung aus unserer Kultur. Seit seiner Einsicht funktionalisiert de vries nicht länger die Wirklichkeit für die Produktion von Kunst oder Wissenschaft, sondern ordnet künstlerisches wie wissenschaftliches Arbeiten ("bilden") der Aufgabe unter, Natur: Wirklichkeit als sie selbst zur Geltung zu bringen.
Mit diesem Ansatz hat herman de vries das Feld der künstlerischen Avantgarde verlassen und stellt sie sanft, doch nachdrücklich in seinem '200 Quadratkilometer großen Atelier' in Frage. In seiner Haltung ist de vries nur mit Marcel Duchamp zu vergleichen. Doch setzt er sich, anders als dieser, nicht mit Konventionen innerhalb unserer Kultur auseinander, sondern mit Kultur als Konvention, als verdinglichter Form des Umgangs mit der natürlichen Wirklichkeit. Und anders als Duchamp zielt de vries' Arbeit nicht auf eine Errettung der Funktion von Kunst und Künstler unter den Bedingungen der industrialisierten Gesellschaft; vielmehr gilt seine Anstrengung der Errettung des Bewußtseins, daß es eine Wirklichkeit gibt, die unabhängig davon, ob sie von uns verstanden wird und bearbeitet werden kann, besteht, und die für uns gültig, ja mehr noch: verbindlich ist. Um dieses Ziel zu erreichen, ist herman de vries im Prinzip jedes geeignete Mittel recht und spielt es für ihn keine Rolle, ob seine Arbeitsmittel und Methoden wissenschaftlicher oder künstlerischer Provenienz sind.
Allerdings geht der Künstler keineswegs beliebig vor. Seine Arbeiten reflektieren den Stand wissenschaftlicher und künstlerischer Technik, wenden sie jedoch außerhalb der Konvention an. Zum Beispiel: herman de vries sitzt im Herbst mit seiner Frau Susanne in einem Waldstück bei Eschenau und klebt die Blätter, die von den Bäumen auf ein mit Papier kaschiertes Brett, das zwischen ihnen liegt, fallen, darauf exakt so fest, wie sie gefallen sind. Dazu gab de vries folgendes Statement ab: "wir stellen hier fest, was alles herunterfällt. die natur hat ihre eigene ordnung, und unter diese ordnung haben wir jetzt dieses brett geschoben und kleben fest, was da geschieht. man nennt das zufall, aber was ist zufall? zufall, das ist nur ein hilfswort, das ich benutze, weil ich nicht alle die faktoren bestimmen kann, die dazu führen, daß ein blatt, wie jetzt dieses, genau an dieser stelle auf unser brett hier fällt. (jetzt warten wir darauf, daß das nächste blatt fällt.) man könnte hier fragen, warum wir hier nicht mehr tun als die blätter aufzukleben, ob das die aufgabe für einen künstler ist? ich habe die grenze zwischen kunst und nicht-kunst überwunden: was soll ich hier noch hinzufügen? jeder strich, den ich hier einsetzen, jede veränderung, die ich hier vornehmen könnte, kann den sinn und die bedeutung dessen, was hier passiert und was wir hier aufzufangen versuchen, nur einschrenken. doch daß ich hier nichts weiter tue, als die blätter aufzukleben, hat eine lange vorgeschichte: vor rund 25 jahren habe ich weiße bilder gemacht, die auf weißen wänden hängen sollten. dabei hatte ich die vorstellung, daß jemand, der das sieht, zu einer projektion seiner eigenen vorstellungen, zu einer eigenen erfahrung kommen könnte; jedenfalls wollte ich seine phantasie nicht durch meine künstlerische vision einengen. später wollte ich wieder zur form kommen und trotzdem diese freiheit behalten. da habe ich mich mit dem zufall beschäftigt: ich hatte zwar bildvorstellungen, aber wie die bilder konkret aussehen würden, das wußte ich nicht, das war immer - ganz systematisch - vom zufall bestimmt. das war mein ausgangspunkt. und den habe ich behalten, nur, daß ich anstelle des weiß die wirklichkeit gesetzt habe."
Wo de vries für Weiß als Summe von allem Wirklichkeit setzte, stellte sich ihm die Frage neu, wie er seine Absicht, Wirklichkeit a1s Wirklichkeit bewußt werden lassen, objektivieren und zur Anschauung bringen könne. De vries warf damit erneut und grundsätzlich die Fragestellung auf, die Alexander G. Baumgarten bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts als die ästhetische Fragestellung schlechthin folgendermaßen auf den Punkt gebracht hatte: Formt man aus einem unregelmäßigen Marmorblock (Wirklichkeit) eine Kugel (Idee), so ist das nur möglich, wenn man das dieser Form nicht angemessene Material beseitigt. Das heißt, um den Marmorblock in eine eindeutige Form (Idee) zu bringen, muß ein Verlust an materialer Substanz (Wirklichkeit) hingenommen werden - und es bleibt offen, ob dieser Verlust an materialer Substanz durch den Wert der regelmäßig runden Gestalt aufgewogen wird.
Zur Lösung dieser grundsätzlichen Frage entwickelte herman de vries keinen eigenen künstlerischen Stil, sondern übernahm einige einfache Arbeitsmethoden, die allerdings sowohl im künstlerischen wie wissenschaftlichen Bereich Anwendung finden und gültigkeit haben: z.B. das Sammeln, Trocknen, Pressen, Reiben und Ordnen von vorgefundenen Materialien. Konnte er auf diese Weise bereits die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst öffnen, so wurde deren gemeinsame Basis erst recht betont durch die unkonventionell-unmittelbare Anwendung ihrer Instrumentarien. So arbeitet de vries zum Beispiel wie ein Wissenschaftler, wenn er sechzehn Blätter von einem Ahornbäumchen pflückt, nebeneinander ausbreitet und morphologisch untersucht; doch entfaltet er dabei - ganz Künstler - die Vielfalt und Unterschiedlichkeit seiner Betrachtungsgegenstände - und macht damit 'normale' Wissenschaft, die in der Regel auf das Auffinden gemeinsamer Merkmale zielt, unmöglich. Als Ergebnis einer solchen Handlung kann man die Ahornblätter nicht mehr als bloß stumme, nichts-sagende Stücke Natur und nicht mehr als bloße Belegstücke für das Linne'sche Klassifikationssystem sehen, sondern kommt man nicht umhin, an ihnen zu erkennen, daß es Blätter gibt, die alle vom Ahorn stammen, doch daß sich nicht zwei gleiche Ahornblätter finden lassen. So fangen die von de vries 'bearbeiteten' Ahornblätter an, gewohnte Wahrnehmungsstile zu konterkarrieren: konkret betrachtet offenbart sich in ihnen ein Prinzip, der Plan, den sie gemeinsam haben, doch entspricht kein Blatt exakt dem Prinzip, und so bleibt dessen Charakter als Ideal (Idee) erfahrbar. Es ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß de vries' Arbeit auf das Schaffen neuen Wissens zielt oder zumindest auf den Erhalt von verschüttetem oder vergessenen Wissen, In dieser Zielsetzung unterscheidet sich de vries von den Interessen der meisten Künstler und ist er dem wissenschaftler ähnlich. Andererseits hat de vries kaum etwas mit Wissenschaftlern gemein, denn er geht radikal subjektiv vor und hält wissenschaftlich-objektivierendes procedere für unverbindlich.
Doch steht die Subjektivierung wissenschaftlicher Arbeit bei de vries nicht im Dienst eines Selbstverwirk1ichungs-Interesses. Sie resultiert vielmehr aus der Einsicht, daß wir die Welt sind, die wir erkennen können.
Auf dieser Einsicht basiert das projekt 'natural relations', das herman de vries seit etwa acht Jahren betreibt und das in 'mind moving,', einer Sammlung von ca. 60 Pflanzen (1984) seine erste Konkretion erfuhr. 'natural relations' ist der Versuch, durch unsere Kultur hindurch auf ursprüngliche Beziehungen zur Natur zurrückzugreifen, auf uns selbst also als Natur.
de vries' Interesse ist nicht nostalgisch oder esoterisch, sondern entspringt dem 'gesunden Menschenverstand' bzw. seiner Geschichte und wird, wo immer möglich, beflügelt von den Ergebnissen neuester wissenschaftlicher Forschung: 'natural relations' ist die intelligente Antwort auf die allfällige High-Tech-Ideologie und ihre theoretische überwindung. de vries propagiert entgegen den hochgezüchteten überlistungsstrategien der Ingenieure die direkte Auseinandersetzung, ein unmittelbares Sich-Einlassen auf die Natur und sucht dazu in allen ihm zugänglichen Bereichen, vor allem aber auch da, wo vermeintlich nur Aberglauben herrscht, nach Belegen und Beispielen für den Zusammenhang, den wir durch die Entwicklung von Kultur zerstört haben.
'natural relations' ist eine Sammlung von rund 2000 Pflanzen oder Pflanzenteilen, denen eine heilende oder geistbewegende Wirkung zugeschrieben wird. Allerdings zeigt de vries diese Pflanzen nicht wie ein Wissenschaftler vor, sondern präsentiert sie als Teile eines großen Bildes; als Teile, die er mehr oder weniger zufällig gefunden und untersucht hat - so zufällig wie die Blätter die auf das Brett fielen, das er in ein Waldstück bei Eschenau gelegt hatte. Und so, wie jedes Blatt, das zufällig fiel, eben dort fixiert wurde, wohin es fiel und damit ein Besonderes wurde, wiewohl es auch ein anderes Blatt hätte sein können: wie also jedes Blatt, das fixiert wurde, konkret dieses und zugleich alle anderen ist: so stehen die in 'natural relations' gesammelten und vorgezeigten Pflanzenproben konkret, als diese Pflanzen, für alle Pflanzen ein und - darüber hinaus durch die 'Bearbeitung' von de vries - für das konkrete wie konkret mögliche Wissen über deren Wirkung auf uns, die Menschen. 'natural relations' ist nur vordergründig eine große Pflanzensammlung. in der Anschauung wird 'natural relations' zu einer Art Urwald von Sinneseindrücken, Informationen, Wissensbeständen und Kulturformen, eine konkrete natüliche Beziehung, die darin ein Bild aller bestehenden und möglichen natural relations ist.
"es gibt nichts, was ohne zusammenhang zum ganzen steht, wenn das ganze einen sinn hat, dann ist jeder aspekt davon voller inhalt und repräsentiert alles. wenn etwas ohne sinn ist, ist auch das ganze sinnlos. entdeckungen in diesem labyrinth - vorbei an dem zwiespalt der sprache - sind abenteuer - und auch der holzweg führt irgendwo hin." (herman de vries 1989)
source: Michael Fehr, '... diese Sätze überwinden. Zur künstlerischen Arbeit von herman de vries', in herman de vries. natural relations, eine skizze. katalog der sammlungen / mit anmerkungen von herman de vries; hrsg. vom karl ernst osthaus museum hagen (verlag für moderne kunst : nürnberg 1989) xiii-xv.